Kommentar

In der Krise entlarvt sich die Lebenslüge des fröhlichen Individualismus: Er hat die Selbstverantwortung verlernt

Wer bei Selbstverantwortung zuerst an sich denkt, steht schon auf verlorenem Posten. Denn vor allem geht es um den anderen, und das Selbst hat hauptsächlich die Arbeit.

Roman Bucheli
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Nichts ist einfacher, als Verantwortung zu übernehmen. Das klingt immer gut, sieht nach geschwellter Brust und breitem Rücken aus und gehört ins gehobene Repertoire der wohlfeilen Redensarten. Nur will es dann hinterher doch keiner gewesen sein, und schon gar keiner will für irgendetwas verantwortlich gemacht werden. Mit der Selbstverantwortung ist es ganz ähnlich. Wer würde sie nicht für sich in Anspruch nehmen wollen? Aber weiss denn jemand, was das heisst und bedeutet?

In der Krise ist die Selbstverantwortung das erste Opfer. Dann duckt sich der stramme Bürger wie das Kaninchen vor der Schlange und wartet, bis man ihm sagt, was zu tun sei. Die Pandemie bescherte die schönste Anschauung. Trugen die Menschen hierzulande etwa eine Maske, ehe sie zur Pflicht wurde, obwohl man längst wusste, dass sie hilfreich sein könnte und wirksam war als Schutzmassnahme für einen selbst, vor allem aber für die anderen?

Als aber die Maske und anderes wie Quarantäne verordnet wurden, begannen die Tricksereien. Denn auch das gehört zum Habitus des selbstbestimmten Bürgers: Man wartet zwar, bis einem gesagt wird, was zu tun sei, aber man lässt sich dann doch nichts sagen. Selbstverantwortung heisst in solchem Verständnis, was der Verwaltungsratspräsident einer Schweizer Grossbank vorführte: Die Quarantänepflicht mag für andere gelten, er, António Horta-Osório, flog von London nach Zürich, kümmerte sich, sei es ahnungslos, wie er behauptete, oder sei es wissentlich, nicht um behördliche Anweisungen und sass schon drei Tage später wieder im nächsten Flugzeug statt in der lästigen Quarantäne. Man hat schliesslich zu tun, man hat Pflichten und Aufgaben. Und im Übrigen trägt man ja die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns.

Das Selbst steht im Weg

Selbstverantwortung meint jedoch etwas ganz anderes. Und der CS-Präsident war gerade nicht ihr leuchtendes Vorbild, vielmehr führte er vor, wie einer das Selbst wichtiger nimmt als die Verantwortung. Dass ein solches Verständnis der hehren Pflichterfüllung eine potenzielle Gefahr für andere darstellt, dämmert dem Eifrigen vielleicht in einer stillen Minute; dass es ein Vorwand ist für hemmungslosen Egoismus, dürfte dem Unermüdlichen entgehen. Denn darin besteht das Missverständnis eines nur allzu leichtfertig gebrauchten Begriffs: Im Kern der Selbstverantwortung steht gerade nicht das Selbst.

Mögen darum auch alle mit Inbrunst von Selbstverantwortung reden und sie wie den Heiligen Gral des Individualismus vor sich hertragen, im Praxistest steht dann das übergrosse Selbst im Weg. Denn dieses übernimmt vor allem eine Verpflichtung, deren Nutzniesser wiederum vornehmlich die anderen sind. Das schmälert in Zeiten des fröhlich zelebrierten Egos die Attraktivität dieser Tugend um ein Beträchtliches.

Die Hochglanz-Rhetorik vom selbstbestimmten Leben und unabhängigen Subjekt hat indessen längst eine seltsam paradoxe Wendung genommen, die noch nicht überall ins Bewusstsein gesickert ist. Denn der aus vielen Zusammenhängen und Bindungen gelöste vereinzelte Mensch verliert nur zu leicht die Orientierung und ist schon bei kleinen Hindernissen überfordert. Wo das Ich, dieses von Natur aus wankelmütige Wesen, die einzige Richtschnur darstellt, dreht es sich alsbald nur noch um sich selbst.

Der Individualismus mit seinem übersteigerten Selbstbestimmungs-Anspruch stärkt nicht etwa, wie er vorgibt, die Mündigkeit des Einzelnen, er schmälert lediglich die Frustrationstoleranz. An Kränkungen aber muss gerade der moderne Mensch einiges aushalten können. Dabei gehört die Einsicht, dass es in der Gesellschaft auf jeden Einzelnen ankommt, dass der Einzelne aber wiederum aufs Ganze gesehen nicht allzu viel gilt, zu den garstigeren Zumutungen, die wir zu verkraften haben.

Die Realität beschäftigt uns noch mit weiteren unangenehmen Risiken und Nebenwirkungen, die gerade in Krisenzeiten auf dem Beipackzettel des Daseins nicht gross genug festgehalten werden können: Wir erleben zwar eine noch nie da gewesene Wissensvermehrung, die den Einzelnen aber eher ratlos als schlauer macht. Ausserdem führt uns gerade die Pandemie in drastischer Weise vor, dass Wissen unsicher ist und immer vorläufig bleibt, dass zugleich aber der Stand des Unwissens nie geringer wird.

Denn die Wirklichkeit verändert sich schneller, als wir ihr zu folgen vermögen, und bringt Virusmutationen in einer Geschwindigkeit hervor, die uns in einen permanenten Deutungsnotstand versetzt. Das laufende Geschehen ist uns immer einen Schritt voraus. Es ist wie mit dem Hasen und dem Igel; wie dieser ist die Realität immer schon da, wo wir gerade noch nicht sind. Darum droht dem Individuum mit seinem Rückstand fortwährend die Entmündigung. Der zu spät kommende Mensch kann die Ereignisse nicht mehr hinreichend deuten, obwohl oder gerade weil das Wissen sich vermehrt wie nie zuvor.

Ähnlich paradox ist das Verhältnis zur Welt, in der sich der Mensch verliert, weil sie ihm noch nie in solch umfassender Weise und so uneingeschränkt zugänglich gewesen ist. Noch nie war jeder beliebige Punkt auf dieser Erde dem Menschen so nah wie heute; und trotzdem fremdelt er mit der Welt gerade dort am meisten, wo er zu Hause sein könnte oder müsste. Und wie nie zuvor ist sogar eine Art Bewusstsein entstanden für die globalen Folgen des individuellen Handelns, das zugleich begleitet wird von der Ernüchterung über die mutmasslich vollkommene Unzulänglichkeit individueller Verhaltensänderung.

Überheblichkeit bei gleichzeitig permanenter Überforderung ist das Ergebnis dieser vielfältigen Zerreissproben. Noch nie hat sich eine Zeit so viel auf die vermeintliche Individualität eingebildet – und nie zuvor war ein Einzelner für sein tägliches Leben so sehr auf andere als wohlwollende und zuverlässige Hilfskräfte angewiesen. Der Mensch ist vielleicht das einzige Tier, das sich innerhalb seiner Gattung für ganz und gar unvergleichlich hält und trotzdem auf Gedeih und Verderb von seinesgleichen abhängig ist. Auch das gehört zur Lebenslüge des Individualismus.

Grössenwahn und Demut

So befindet sich der Mensch in einem dauernden Wechselbad der Gefühle, das ihn unentschieden zwischen Grössenwahn und Kränkung schwanken lässt. Allein in diesem Horizont widersprüchlicher Empfindungen kann sinnvollerweise über die Selbstverantwortung gesprochen werden, die im Übrigen eine in sich selbst durchaus paradoxe Denkfigur darstellt. Sie erwächst uns, wie Jean-Paul Sartre einmal schrieb, als Konsequenz unserer Freiheit, und sie verlangt zugleich einen partiellen Freiheitsverzicht. Als zwanglose, selbstbestimmte Einschränkung unserer Freiheitsrechte aber ist sie ein Zeichen unserer politischen Mündigkeit. Sie hebt das gewohnheitsmässig grössenwahnsinnige Selbst in den Vordergrund – und stellt es zugleich demütig in den Dienst an der Gesellschaft.

Mündigkeit aber erweist sich darin, dass sich die Handlungen des Einzelnen nicht vor allem nach moralischen Gründen richten, aber an solchen der Vernunft orientieren. Nicht Gehorsam lautet dann die Handlungsmaxime, sondern Rücksicht auf das Gemeinwohl, weil sich auch der Eigennutz nur in diesem Horizont erfüllen kann.

Selbstverantwortung heisst darum, die eigenen Interessen und ihre Folgen mit dem Wohl der anderen zu synchronisieren. Denn niemals kann ein Handeln selbstverantwortlich sein, mit dem das Wohlergehen des anderen gefährdet wird. Wir glauben zu wissen, was das im Alltag bedeutet. Die traurige Wahrheit aber ist: Wir bleiben in dieser Disziplin blutige Anfänger bis zuletzt. Doch mag auch die Welt unübersichtlicher und komplizierter sein als je zuvor, so bleibt doch immerhin ein Trost: Selten hatten wir bessere Gelegenheit, uns in der Selbstverantwortung zu üben.

Was es aber bedeutet, mit dem eigenen Wohl jenes der anderen zu befördern oder immerhin zu schützen: Nie stand es uns deutlicher vor Augen als in der Pandemie. Und nie war es leichter, gleichermassen grössenwahnsinnig und demütig, autonom und vernunftbestimmt, das heisst: eingedenk aller Folgen auch und vor allem für die anderen, selbstverantwortlich zu handeln.

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